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17.01.2012

Grödner Klettervevier - Neutour an der Meisules dala Biesces

von Ivo Rabanser

Nordwind. Der kühle Wind pfiff uns um die Ohren. Eine unbändige Neugierde trieb uns trotz der widrigen Verhältnisse in die Wand. Eigentlich war es schon verwegen bei diesen Wetterbedingungen überhaupt einzusteigen! Nur ein paar Monate war es her, seit Adam Holzknecht und ich zwei Vorstöße an der Südwestwand der Meisules dala Biesces unternommen hatten. Unser Ziel war es eine Linie durch den gelben Abbruch zu erkunden. Wir hatten uns im Herbst des vergangenen Jahres bereits schon bis unter den überhängenden Wall auf halber Wandhöhe vorgearbeitet. Adam hatte dabei einige äußerst anspruchsvollen Seillängen vorgestiegen. An kleinsten Fingerlöchern hatte er sich besonnen und souverän ins Nichts hinaufgehangelt. Ich war zutiefst von seiner Kletterkunst beeindruckt gewesen!

Im unteren Teil der Route bescheren steile Platten eine Auswahl sehr eleganter Kletterei. In der gelben Wandzone wurde dann die Angelegenheit zunehmend ernster. Dort galt es den fast brutalen Anblick gehenden Leere wegzustecken, die wilde Herausforderung einer Erstbegehung anzunehmen und ins Ungewisse zu klettern. Immer wenn ich während der Wintersaison auf den Pisten um Plan de Gralba mit den Skiern unterwegs war, spähte ich in voller Neugierde in das grau-gelbe Gemäuer. Nun war die Zeit endlich gekommen! Wir brannten darauf, unseren Neutourenplan wiederanzugehen und zu vollenden. So standen wir wieder einmal am Wandfuß. Bei solch einem heftigen Nordwind ging aber rein gar nichts, wurde uns bald bewusst. Da halfen auch keine zusätzliche Fleecejacke und kein Anorak. Uns blieb nichts anders übrig als den Rückzug anzutreten. Und so glitten wir am Doppelseil über die senkrechte Wand hinab, vorbei an all den Stellen über die wir so erwartungsvoll hochgestiegen waren.
Wir wollten aber wieder kommen und der unvollendeten Route den Hut aufzusetzen. Unsere Begeisterung und unser Selbstvertrauen waren stärker als die Einsicht, dass es dort oben vielleicht noch größere Schwierigkeiten zu überwinden galt.
Grödner Kletterrevier. Meisules dala Biesces ist eine massive Felsschulter an der Westseite des Sellatocks, die den Sockel der Murfreidtürme bildet und mit beachtlich prallen Wänden direkt zur Passstraße abfällt. An diesen kompakten Platten wurden ab Mitte der Achtziger Jahren eine Reihe neuer Routen erschlossen. Eine neue Generation Grödner Kletterer hatte hier ihr Revier gefunden, das vom Tal aus rasch zu erreichen war, denn diese Kalkwände ermöglichten kühne und rasche Aktionen. Die Mobilität war damals, für die über keine motorisierten Vehikel verfügenden Jugendlichen, ein ernstes Probleme.
In Gröden hatte das Klettern bereits einen gewaltigen Aufschwung erfahren. Mehrere Burschen – teilweise noch im Schulalter – investierten ihre gesamte Energie und Begeisterung in die Bergsteigerei, wobei jede freie Stunde in den Felsen verbracht wurde. Zudem erlebte das alpine Freiklettern in den Dolomiten eine neue Welle. Eine Umbruchstimmung war im Gange und das Klettern wurde als spielerische Herausforderung neu empfunden, im Gegensatz zum heroischen Ambiente der vergangenen Generationen. Reinhold Messners persönlicher Einsatz zur Rückbesinnung und zu einer natürlichen Auseinandersetzung mit der Materie Fels hatte diese enthusiastische Welle wesentlich mit beeinflusst.
Dieses aufregende Spiel arrangierte sich durch selbstauferlegte Regeln und zielte auf die Umsetzung kühner Erstbegehungen mit geringem Hakenaufwand und in möglichst schneller Zeit. Und der bevorzugte Spielplatz zu dieser kreativen Aktivität wurden für uns junge Grödner die Kalkwände der Meisules dala Biesces.
Das Selbstverständnis, mit welchen der neue Stil in den steilen Wänden umgesetzt wurde, entsprach einer gemeinsamen, euphorischen Sturm-und-Drang-Stimmung. Die Träume all dieser Buschen galten nicht einer Freundin oder etwa der Karriere, sondern viel mehr der Marmolada-Südwand, der Civetta-Nordwestwand oder den Drei Zinnen! Tote Materie, mit der geheimnisvollen Macht aber die eigene Innenwelt ungemein zu beflügeln und besondere Glücksmomente zu vermitteln. Ein Glück, das man als junger Kletterer mit großen Ambitionen weder kaufen noch anderswo finden konnte. Jedenfalls füllte uns das abenteuerliche Unterwegssein in steiler Wand völlig aus. Vielleicht auch deshalb, weil Aktion, Erfahrung und Wissen dabei ineinander flossen.
Die alpine Erschließung der Wandfluchten in den Meisules dala Biesces begann in den Dreißiger Jahren, als der Grödner Bergführer Ferdinand Glück mit seiner Klientin Hulda Tutino-Steel jenen markant Y-förmigen Spalt an der Westwand durchstieg. Erst ab den Achtziger Jahren wurde das Interesse für diese herrlichen Platten reger. Gregor Demetz, später Adam Holzknecht und Karl Vinatzer wurden die Hauptakteure des Geschehens. Es war dann Roland Mittersteiner, ein Südtiroler Ausnahmeathlet, der mit zwei extrem anspruchsvollen Routen 1990 ein Höchstmaß an gekletterten Schwierigkeiten in diesen Wänden einfahren konnte.
Der Durchstieg. Eine Woche später stiegen Adam Holzknecht und ich ebenfalls wieder in die Wand ein. Über vertrautes Gelände kletterten wir zum letzten Umkehrungspunkt empor. Einige Schuppen beachtlicher Größe klebten am gelben Fels und zwangen zur Vorsicht. Im Nachstieg konnte ich sie dann mit dem Hammer lösen und erschrak unwillkürlich, als die Felsbrocken in die Tiefe donnerten. Für einen Augenblick lang wurde mir die schwindelnde Tiefe des Abgrunds gegenwärtig. Überhängend wölbte sich nun die Wand über uns vor. Einige Haken unseres letzten Versuchs, dann betrat Adam Neuland. Nun war ich gespannt, wie sich diese abartige Felsbarriere knacken ließe. Wieder war ich beeindruckt über Adams Artistik! Mit seiner typischen Art zu greifen und weit mit den Beinen spreizend, kletterte er zügig empor. Jede Bewegung war überlegt und ausgewogen, alles wirkte absolut souverän. Das war eine anschauliche Lektion in punkto Freikletterei! Und mit Bewunderung stellte ich fest, dass solch ein Niveau nur besonders Talentierten Athleten vorenthalten ist. Ein kurzer Regenschauer überraschte uns, während wir uns im Ausstiegsriss abmühten und plötzlich lehnten sich die Felsen zurück. Am späten Nachmittag stiegen wir auf der flachen Gipfelwiese aus, welche schon so oft den krönenden Abschluss einer gelungenen Kletterei bot. Ist der brennende Tatendurst gestillt, lässt es sich hier vortrefflich die Seele baumeln lassen und den überwältigenden Rundblick in sich verinnerlichen. Der Bann einer selbst gewählten Aufgabe hatte sich wieder einmal gelöst.
»Placet experiri«, dachte ich, während mein Blick über das Tal hinwegschweifte und die erlebten Eindrücke auf mich wirkten. Es ist angenehm, Experimente aufzustellen. Hier hatte ich meine ersten Erstbegehungsambitionen ausleben können und mittlerweile war ein knappes viertel Jahrhundert verstrichen. Es war eine tolle Zeit! Nun ging aber eine Phase zu Ende, denn an den Wänden des Meisules dala Biesces waren nach meinem Empfinden und Geschmack jegliche logische Linien ausgeschöpft.
Mit diesem Gefühl der Vollendung setzte sich auch eine innere Leere ein. Und unwillkürlich suchte ich nach neuen Zielen…

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